Auf besonderes Interesse sollte eine reine Kostenentscheidung des BFH stoßen, die unmittelbar den Rechtsstaat betrifft und die Stellung der Bürger, die sich vor Gericht auf die Verfassung berufen (VI R 123/94). Wer trägt die Gerichtskosten, wenn diese Bürger in der Sache Recht bekommen, das Verfassungsgericht ihnen dies Recht aber materiell vorenthält? Dann zahlt der Staat, sagt jetzt der Bundesfinanzhof. Das war vorher keineswegs selbstverständlich.
Die Bundestagswahl ist vorüber und offen bleibt, wer Kanzler oder Kanzlerin wird. Schon vorher aber war klar, wer nicht Finanzminister wird: der „Professor aus Heidelberg“ Paul Kirchhof. Auch sein Einfluss auf die Steuergesetzgebung wird zurück gehen. Wachsen wird jedoch der Einfluss der Juristen und Ökonomen um den Kölner Steuerrechtler Joachim Lang. Deren Konzept und die Vorschläge des Sachverständigenrats zu einer „dualen Einkommensteuer“ sind durchaus miteinander verwandt und könnten gemeinsam bei der SPD, der CDU, der CSU und bei den Grünen einen Weg zu weiteren Reformen weisen. Die FDP wird sich dort schwerer tun.
Nun aber ist Zeit, sich wieder um die Einzelheiten zu kümmern. Und bei aller Parteilichkeit: Zeit, sich wieder den Konflikten zwischen Politik und Rechtsprechung zu widmen, die eher selten in die Raster von links versus rechts oder von neoliberal versus keynesianisch passen.
Aber bei der Detailarbeit stößt man sofort wieder auf die markante Spur, die Paul Kirchhof gelegt hat. Der Bundesfinanzhof hat in der vergangenen Woche erneut eine Entscheidung veröffentlicht, die Nacharbeiten aufgrund eines der zentralen Urteile erledigte, welche Kirchhof als Verfassungsrichter durchgesetzt hatte.
Dabei handelt es sich um eine Sache, die aus dem Blickwinkel des Staatsbürgers ziemlich relevant ist und den einstweiligen Schlusspunkt bildet hinter den umwälzenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminimum. Diese Serie von Urteilen und Beschlüssen begann in den späten 80er Jahren und kulminierte in dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1998 2 BvL 42/93 , 6 Wochen nach der damaligen Bundestagswahl.
Auf diese Entscheidung zum Existenzminimum und zum Kindergeld bezieht sich der neue Beschluss des Bundesfinanzhofs. Es geht dabei um die Frage, wer die Gerichtskosten zu bezahlen hat, wenn das Verfassungsgericht einen in der Vergangenheit liegenden Zustand als grundgesetzwidrig anerkennt – aber der einzelne Kläger das Verfahren trotzdem nicht gewinnt.
Die Bedeutung der Entscheidung erschließt sich nur, wenn man sich auf einen kurzen historischen Rückblick einlässt.
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1998 enthielt einiges, womit die damals gespannt wartete Öffentlichkeit aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts fest gerechnet hatten – und ein paar Überraschungen.
Das Karlsruher Gericht stellte dem Gesetzgeber damals anheim, rückwirkend selbst Konsequenzen aus diesem Beschluss zu ziehen, oder dies dem Bundesfinanzhof zu überlassen. Für letzteren Fall verpflichteten die Karlsruher Richter den Bundesfinanzhof lediglich, eine Lösung im Sinne derjenigen Kläger zu finden, deren Verfahren dort bereits anhängig waren. Das waren sehr wenige im Vergleich zu den vielen hunderttausend Betroffenen, deren Steuerbescheide die Regierung wegen des anhängigen Verfahrens „vorläufig“ gestellt hatte.
In Erwartung des späteren Karlsruher Beschlusses hatten tausende von Bürgern bereits in den späten 80er Jahren geklagt, weil sie ihre Rechte nur so gewährleistet sahen. Die Finanzgerichte wiesen die eingelegten Klagen serienmäßig ab – und verwehrten den Klägern ebenso serienmäßig das Recht, beim Bundesfinanzhof Revision einzulegen. Um die falschen Steuerbescheide nicht rechtskräftig werden zu lassen, blieb diesen Bürgern keine andere Wahl, als beim Bundesfinanzhof eine so genannte Nichtzulassungsbeschwerde einzulegen – ein Antrag, dass dieses Gericht die von der unteren Instanz verwehrte Revision doch noch zulässt .
Dabei wäre es im Interesse dieser Bürger gewesen, die Gerichtskosten gar nicht erst entstehen zu lassen und auf eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs in einer kleinen Zahl von Musterverfahren zu warten. Eine große Zahl dieser sinnlosen Nichtzulassungsbeschwerden hatte das Hessische Finanzgericht in Kassel zu verantworten, dessen Verhalten von außergewöhnlicher Respektlosigkeit vor den Rechtsschutz suchenden Bürgern geprägt war.
Das hatte womöglich damit zu tun, dass es damals bei einer Vielzahl von Klagen um die Angelegenheit scheinbar „kleiner Leute“ ging. Für die Richter bedeutete das eine Flut von Arbeit, obwohl es im Vergleich zu sonstigen Prozessen oft nur um geringe Beträge ging. Viele der Kläger hatte die Frankfurter DGB-Rechtsstelle unterstützt. Der DGB hatte diesen Arbeitnehmern empfohlen, sich von der Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungs-Kanzlei des Ehepaars Klaus-Jürgen und Gabriele Böhm vertreten zu lassen. Die Böhms legten beim Finanzgericht in Kassel hunderte von Klagen – wie man heute weiß: berechtigten Klagen – ein.
Bei einer Richterversammlung Ende der 80er Jahre, welche die allgemeine Arbeitsbelastung des Kasseler Gerichts durch die Böhmschen Verfahren zum Thema hatte, wurden alle zuständigen Senate nach dem Stand der Arbeit befragt. Eine der Antworten führte in dem Gericht zum Eklat. Der Vorsitzende Richter Michael Rudek fasste die Behandlung der Klagen durch seinen eigenen Senat wörtlich so zusammen: „Die haben wir selbstverständlich alle abgeschmiert und nach München gekarrt“ – also zum Bundesfinanzhof. Ein anderer Richter äußerte daraufhin spontan, diese Formulierung stamme offenbar „aus dem Wörterbuch des Unmenschen“.
Ein weiterer Kasseler Richter, den die Kaltschnäuzigkeit seines Kollegen, vor allem aber die fehlende Reaktion des Gerichtspräsidenten auf das Äußerste empört hatte, gab nach schweren gerichtsinternen Auseinandersetzungen um den Vorfall seine unkündbare Richterstelle auf, wurde Steueranwalt und gehört heute zu den Mitarbeitern der Juristenzeitschrift NJW (Neue Juristische Wochenschrift).
Doch 1998, zehn Jahre später, war es eins dieser Kasseler Verfahren, mit denen die Kanzlei Böhm den Grundsatzprozess vor dem Bundesverfassungsgericht gewann (siehe oben, Aktenzeichen 2 BvL 42/93. Doch bis jetzt drohte den weiteren Klägern die Konsequenz, für diese ihnen aufgezwungene Nichtzulassungsbeschwerde oder – seltener – Revision beim Bundesfinanzhof noch Gerichtskosten zahlen zu müssen. Der vergangenen Mittwoch vom BFH veröffentlichte Kostenbeschluss in dieser Sache betraf die letzten dort – nach erneut sieben Jahren – noch anhängigen Prozessfolgen.
1998 hatte die neue rot-grüne Bundesregierung vor der Wahl gestanden, eine teure Lösung zu schaffen, die einer gewaltigen Zahl betroffener Bürger Nachzahlungen bescherte. Nun hatte die Entscheidung von Paul Kirchhof dem Gesetzgeber auch die Möglichkeit gelassen, das Problem Kosten sparend allein vom Bundesfinanzhof regeln zu lassen. Und dem BFH hatte das Verfassungsgericht anheim gestellt, nur denjenigen Klägern zu ihrem Geld zu verhelfen, deren Revision oder Nichtzulassungsbeschwerde dies Gericht bereits erreicht hatte.
Das hätte den Staatshaushalt geschont. Die Koalition hätte nichts tun müssen und sich politisch darauf berufen können, dass die vom Verfassungsgericht verworfenen Zustände durchgehend auf Regelungen der Kohl-Regierung beruhten und die von der neuen Regierung übernommene Haushaltslage zusätzliche Schulden nicht erlauben würde.
Eine Entscheidung des 6. Senats des Bundesfinanzhofs nahm dem Bund diese Wahl faktisch ab und reparierte zugleich auch die Kirchhof-Entscheidung. Unter Vorsitz des Richters Walter Drenseck nahm dieser Senat nämlich die Position ein, dass nicht nur den Klägern, sondern allen betroffenen Bürgern eine rückwirkende Erstattung zusteht. Jedenfalls in allen Fällen, in denen Finanzminister Theo Waigel seinerzeit angeordnet hatte, dass die Steuerbescheide bezüglich dieses Streitpunkts auch ohne Einspruch beim Finanzamt und ohne Klage offen bleiben würden.
Der Drenseck-Senat setzte zu dieser Auffassung eine mündliche Verhandlung an und forderte das damals von Oskar Lafontaine geleitete Bundesfinanzministerium auf, sich daran zu beteiligen. Das war deutlich. Bevor es zu der Verhandlung kam, fügte der Bundestag einen Paragrafen 53 in das Einkommensteuergesetz ein, der die Kinderfreibeträge rückwirkend seit 1983 den jeweiligen in einem Jahr geltenden Sozialhilfesätzen anpasste.
Das Bundesverfassungsgericht hatte an jenem 10. November allerdings auch einen zweiten Beschluss gefasst. Er betraf vor allem eine Sonderregel aus dem Jahr 1985 für allein Erziehende, die Kinderbetreuungskosten zu tragen hatten. Zu diesem Paragrafen hatte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber in einem noch früheren Urteil unter Fristsetzung bis Ende 1984 gezwungen. Ferner betraf das Urteil den damals ebenfalls neu eingeführten Haushaltsfreibetrag.
Dessen Sinn hatte darin bestanden, die Steuerprogression allein Erziehender so zu dämpfen, dass sie nicht steiler ansteigt als die von gleich viel verdienenden Verheirateten. Jetzt aber verwarf das Bundesverfassungsgericht die 1985 gefundenen Lösungen als ebenfalls verfassungswidrig, weil es darin eine Diskriminierung intakter Ehen sah. Aktenzeichen u.a 2 BvR 57/91. Erneut setzte das Verfassungsgericht dem Bundestag Fristen. Für die Vergangenheit dagegen ließ es die alten Vorschriften gelten, obwohl sie verfassungswidrig waren. Die Folge war, dass die deshalb anhängigen Klagen beim Bundesfinanzhof keinen Erfolg mehr haben konnten – obwohl die Kläger in der Sache recht gehabt hatten. Nun aber blieben sie auf ihren Gerichtskosten sitzen.
Erneut war es der Drenseck-Senat des Bundesfinanzhofs, der half. Mit dem vergangene Woche veröffentlichten Kostenbeschluss befreit der BFH die klagenden Bürger, die das Urteil des Verfassungsgerichts ins Leere laufen ließ, von allen Gerichtskosten, die daraus entstanden waren, dass die Kläger sich auf die Verfassungswidrigkeit des bisherigen Kinderleistungsausgleichs berufen hatten (VI R 123/94). Vergangene Woche gingen bei den Böhms noch etwa drei Dutzend entsprechende Gerichtsbeschlüsse dieses Senats ein.
Klaus-Jürgen Böhm, der inzwischen auch Rechtsanwalt ist, kommentiert das Ganze mit gemischten Gefühlen. Obwohl er und seine Frau eigentlich auf der ganzen Linie gewonnen haben, ist er mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht voll einverstanden, insbesondere nicht mit der Ausrichtung, welche des damalige federführende Verfassungsrichter Paul Kirchhof dem Ganzen gegeben hatte. Die Verfahren hätten ursprünglich das Existenzminimum von Bürgern betroffen, denen es materiell nicht besonders ging, sagt er. Aber Paul Kirchhof habe durch die Einbeziehung des Kindergelds in das Urteil daraus „eine Reichen-Erstattung“ gemacht.
(c) Michael Weisbrodt
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