Richterliche Rechthaberei zu Lasten der Bürger?

Der BFH desavouiert eine Initiative des Verfassungsgerichts. Die Münchner Richter lassen ein Gesetz ins Leere laufen, welches das Parlament auf Karlsruher Verlangen – aber gegen das Votum des BFH – beschlossen hat.

Vor dreizehn Monaten verabschiedete der Bundestag ein Gesetz, das eine Lücke im Rechtsschutz schließen soll. Dieses „Anhörungsrügengesetz“ verpflichtet die Gerichte, ein eigentlich abgeschlossenes Gerichtsverfahrens auf eine außerordentliche Beschwerde des Betroffenen hin fortzusetzen. Voraussetzung ist, dass alle sonstigen Rechtsmittel erschöpft sind, das Gericht aber den Anspruch auf rechtliches Gehör zuvor „in entscheidungserheblicher Weise“ verletzt hat. Das Bundesverfassungsgerichts hatte das Gesetz unter Fristsetzung bis zum Jahresende 2003 verlangt. Es sollte die Rechtswegegarantie des Grundgesetzes wasserdicht machen. Eins der Gesetzes, welche durch das Anhörungsrügengesetz geändert wurden, war die Finanzgerichtsordnung. Sie erhält seither einen entsprechenden Paragraphen 133a.

Bevor das Plenum des Bundesverfassungsgerichts diese Verpflichtung im April 2003 beschloss, hatte es alle Bundesländer, die Bundesregierung, den Bundesgerichtshof, den Bundesfinanzhof und das Bundesverwaltungsgericht nach ihrer Meinung gefragt. Alle drei Gerichte, die Bundesregierung (durch das Justizministerium) und drei Bundesländer lehnten das Vorhaben ab. Das Verfassungsgericht jedoch setzte das Verlangen mit einer Mehrheitsentscheidung von 10 zu 6 durch ().

Inzwischen hat der Bundesfinanzhof den für ihn geltenden neuen Paragraphen der Finanzgerichtsordnung zum dritten Mal interpretiert. Den letzten dieser Beschlüsse hat der BFH vergangene Woche veröffentlicht (Aktenzeichen VIII B 181/05). Jedes Mal hatten die Richter die neue Rechtslage so interpretiert, dass sie den Rechtschutz der Kläger im konkreten Fall nicht als gegeben annahmen. Über die erste dieser Entscheidungen hatte der Steuerdienst im Oktober berichtet ().

In diesem dritten Beschluss geht es um eine reine Kostenentscheidung eines Finanzgerichts. Dem Sachverhalt zufolge, den der BFH schildert, spricht einiges einiges dafür, dass die vorhergehende Kostenentscheidung des Finanzgerichts Düsseldorf rechtswidrig war. Jedoch sieht die Finanzgerichtsordnung ein Rechtsmittel gegen Kostenentscheidungen grundsätzlich nicht vor. Bislang hatte der Bundesfinanzhof in solchen Fällen trotzdem einen Weg gefunden und eine außerordentliche Beschwerde im Falle einer so genannten „greifbaren Gesetzwidrigkeit“ eines zuvor ergangenen Richterspruchs zuzulassen. Diese Rechtskonstruktion hatte der BFH vom Bundesgerichtshof übernommen.

Nun aber stellen sich die Münchner Richter auf den Standpunkt, dass der neue Paragraph und dessen Begründung durch das Bundesverfassungsgericht eine solche großzügige Interpretation nicht mehr erlauben. Die Richter lehnten die Beschwerde gegen die Düsseldorfer Kostenentscheidung ab.

Die juristische Interpretation ist sicherlich nicht Sache des Steuerdiensts. Aber die Argumentation der Richter atmet einen Geist, der Unbehagen erzeugt. Das Urteil ist ist ein einziges großes „Siehste“. Es wirkt rechthaberisch.

Das Verfassungsgericht hatte die Rechtswegegarantie stärken wollen. In dem Karlsruher Beschluss vom 30. April 2002 heißt es:

„Um Lücken im bisherigen Rechtsschutzsystem zu schließen, sind von der Rechtsprechung teilweise außerhalb des geschriebenen Rechts außerordentliche Rechtsbehelfe geschaffen worden. Diese genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit nicht. Die Rechtsbehelfe müssen in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürger erkennbar sein.“

Diesen Weg hatten die obersten Finanzrichter zuvor abgelehnt. Das Verfassungsgericht hatten sie damit nicht überzeugen können. Jetzt reagieren die BFH-Richter ersichtlich verschnupft. Sie folgern aus der Begründung der Verfassungsrichter, dass Karlsruhe die zuvor in München geschaffene pragmatische Erweiterung des Rechtsschutzes beseitigt hat. Aber sie vermeiden die Frage, ob der Gesetzgeber dem Verlangen des Verfassungsgerichts womöglich nur unzulänglich nachgekommen ist.

Die Verfassungsrichter hatten den Rechtsschutz der Bürger nicht schwächen, sondern stärken wollen. Sie hatten deshalb vom Gesetzgeber verlangt, die Hilfkonstruktionen der Fachgerichte zugunsten klagender Bürger auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen.

Vor diesem Hintergrund hätte sich für den BFH eine andere Reaktion angeboten: einen Vorschlagebeschluss nach Karlsruhe zu schicken mit der Frage, ob die neue Gesetzeslage der Rechtswegegarantie des Grundgesetzes widerspricht. Jetzt ist man geneigt zu wetten, dass die Beschwerdeführer selbst das ähnlich sehen werden und ihrerseits eine Verfassungsbeschwerde einlegen. Die „gefühlte“ Chance einer solchen Beschwerde läge nicht bei Null.

Der BFH beruft sich in seinem Beschluss darauf, dass das Bundesverwaltungsgericht und das Bundessozialgericht in ihrem Bereich zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen sind. Der Konflikt hat also alle Chancen, sich auszuweiten.

© Michael Weisbrodt
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