Das Finanzgericht Köln hat am Donnerstag beschlossen, dass Zweifel bestehen, ob die in diesem Frühjahr ausgelaufene Steueramnestie verfassungskonform war. Das Gericht beantragt deshalb beim Bundesverfassungsgericht ein Normenkontrollverfahren. Karlsruhe soll für die Jahre 2000 bis 2002 prüfen, ob der komplette Paragraf gültig bleiben kann, der die Einkünfte aus Kapitalvermögen definiert und regelt (Paragraf 20 Einkommensteuergesetz). Sollte Karlsruhe die Zweifel für berechtigt halten, dürften nach Auffassung der Kölner Richter die vergleichbaren Kapitaleinkünfte normaler Steuerpflichtiger nicht höher besteuert werden, als die der Amnestierten.
Neben dem kompletten Paragrafen 20 zweifelt das Gericht speziell die Verfassungsmäßigkeit eines Passus in diesem Paragrafen an, der sich unter anderem mit so genannten Finanzinnovationen befasst (Absatz 1 Ziffer 7).
In der gestrigen Pressemitteilung zu dem Beschluss 10 K 1880/05 heißt es:
Der Kläger des Verfahrens hatte als steuerehrlicher Kapitalanleger Anstoß daran genommen, dass er seine Kapitaleinkünfte voll versteuern musste, während steuerunehrliche Kapitalanleger, die von dem im Dezember 2003 erlassenen „Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit (Strafbefreiungserklärungsgesetz)“ Gebrauch machten, weniger Steuern auf ihre nacherklärten Einnahmen zahlen müssten.
Nach diesem Gesetz wird derjenige, der seine Zinsen in den fraglichen Jahren nicht erklärt und versteuert hatte und nunmehr offen legt und nacherklärt, steuerlich besser behandelt als der steuerehrliche Bürger. Denn von den nacherklärten Einnahmen werden nur noch 60 v. H. der Besteuerung unterworfen und auf diese 60 v. H. werden dann auch nur 25 bzw. 35 v. H. Steuern erhoben.
Der 10. Senat sieht hierin einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Die pauschale Minderung der Bemessungsgrundlage auf 40 v. H. und zusätzlich der geringere Steuersatz seien nicht gerechtfertigt. …
Darüber hinaus hält der 10. Senat die Versteuerung von Zinseinnahmen in den Jahren 2000 bis 2002 für mit dem Grundgesetz unvereinbar, weil die Besteuerung der Zinseinkünfte auch in diesen Jahren nach wie vor nicht gleichmäßig durchgesetzt werden könne und die Durchsetzung des staatlichen Steueranspruchs wegen struktureller Vollzugshindernisse weitgehend vereitelt werde.
Auf solche „strukturellen Vollzugshindernisse“ bezog sich zuletzt auch eine andere dem Bundesverfassungsgericht zugesandte Vorlage, in diesem Fall des Bundesfinanzhofs. Dort ging es allerdings nicht um die Verzinsung eines Wertpapiers, sondern um einen „Spekulationsgewinn“ aus dem Verkauf von Wertpapieren. Ein Spekulationsgewinn (oder Verlust) entsteht bei Wertpapieren, wenn jemand das Papier vor Ablauf eines bestimmten Zeitraums, derzeit ein Jahr, verkauft.
Der Gewinn aus dem Verkauf vor Ablauf der Frist ist insgesamt steuerpflichtig, nach Ablauf der Frist steuerfrei. Ob aber ein Wertpapier überhaupt verkauft wird, bleibt den Finanzämtern meist unbekannt. Die Steuerpflicht hängt eigentlich nur davon ab, ob jemand dem Finanzamt freiwillig von dem binnen eines Jahres nach dem Erwerb erfolgten Verkauf berichtet. Im März 2004 hat das Verfassungsgericht dann unter dem Aktenzeichen 2 BvL 17/02 entschieden, dass diese Vorschrift während der Jahre 1997 und 1998 verfassungswidrig und nichtig war. Die Entscheidung war auch deshalb relativ bekannt geworden, weil sie den legendären ehemaligen Kölner Hochschullehrer Klaus Tipke betraf, der in eigener Sache klagte. Und zwar nicht, um Steuern zu sparen, sondern um auf einen skandalösen gesetzlichen Missstand hinzuweisen. Die Begründung war auch hier ein „strukturelles Vollzugsdefizit“ das die Karlsruher Richter bei der Versteuerung von Wertpapieren feststellten. In den Jahren, auf die sich diese Entscheidung bezog, lag die Spekulationsfrist übrigen nur bei sechs Monaten.
Umgangssprachlich besagt die Formel vom „strukturellen Vollzugshindernis“ etwa Folgendes: Die Finanzbehörden können sich faktisch nur unzureichend darum kümmern, ob die Steuerpflichtigen ihre Steuern tatsächlich zahlen. Der Staat enthält den Ämtern entweder den geeigneten rechtlichen Hebel vor, oder die Kapazität, oder beides. Das Defizit führt dazu, dass der Staat seinen Steueranspruch auch gegenüber solchen Bürgern verliert, die ihren Pflichten nachkommen. Dass dieser Gedanke im Prinzip richtig sein kann, hatte das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Zinsurteil vom 27. Juni 1991 (Aktenzeichen 2 BvR 1493/89) entschieden. Damals sah sich der Bundestag zu einer Gesetzesverschärfung gezwungen, die zu einer tatsächlichen Versteuerung von Zinsen führte. Dieser Karlsruher Spruch war der erste in einer Reihe einschneidender Beschlüsse und Urteile im Steuerrecht, mit denen der Verfassungsrichter Paul Kirchhof seinen Ruf als Steuerreformer begründete. Auch die Sprachformel vom strukturellen Vollzugshindernis geht auf ihn zurück.
Damals führte die Gesetzesverschärfung indes vorrangig zu einer massiven Steuerflucht von mehreren hundert Milliarden Mark. Die Flucht organisierten zum großen Teil deutsche Banken und Sparkassen. Die jüngste Amnestie hatte das Ziel, einiges von dem damals abgewanderten Geld zurück zu holen. Das gelang trotz der außergewöhnlich großzügigen Regelung nur in minimalem Umfang von etwa 1,5 Milliarden Euro. Nun beruft sich der Kläger beim Finanzgericht Köln gerade darauf, dass diese Amnestie so großzügig war, dass sie das normale Recht in Frage stellt. Das Finanzgericht Köln hält diesen Gedanken offensichtlich für zutreffend.
Für den Kölner Kläger bedeutet die Vorlage übrigens, dass er die fragliche Steuer einstweilen nicht zu zahlen braucht. Für die anderen Bürger werden sich die Finanzminister wieder auf die Formel zurück ziehen, dass deren Steuerbescheide insoweit vorläufig nicht rechtskräftig werden.
© Michael Weisbrodt
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