„Keine Rücksicht auf die Verluste"

Ein Urteil des Bundesfinanzhofs wirft Licht auf die politische Debatte zur Reform der Unternehmenssteuern von fünf Jahren. Denn ein bayrisches Elektronikunternehmen wollte die Übergangsbestimmungen für verfassungswidrig erklären lassen, die für den Systemwechsel bei der Körperschaftsteuer zu Beginn dieses Jahrzehnts galten.

Diese Vorschriften hatten dem Unternehmen einen Verlust von 3 Millionen Mark gebracht. Der Firma war es zuvor nicht mehr gelungen, bestehende Steueransprüche noch rechtzeitig zu realisieren. Dies komme einer Enteignung gleich, klagte sie. Der Bundesfinanzhof aber hielt das Vorgehen des Gesetzgebers für zulässig und lehnte den Antrag ab

In der der Silvesternacht 2000 auf 2001 erlebte Deutschland eine einschneidende Steuerreform für Kapitalgesellschaften und für deren Eigentümer. Die Neuerung führte zu heftigsten politischen Auseinandersetzungen im Bundestag und in der Öffentlichkeit. Dieser Streit spiegelt sich nun auch in einem Urteil wider. Darin geht es darum, ob der Weg von dem einen zum anderen Steuersystem so schnell beschritten werden musste, dass manche Unternehmen kaum richtig reagieren konnten. In trockenen juristischen Worten hat der Bundesfinanzhof sachlich zusammengefasst, wo der eigentliche Kern des damaligen Streits lag. Die Richter haben ein Lehrstück geschrieben, das allerdings der Übersetzung ins alltagsdeutsch bedarf.

Bis zu der Gesetzesänderung war die Körperschaftsteuer der GmbHs und der Aktiengesellschaften in ihrem wirtschaftlichen Kern nur eine Vorauszahlung auf die Einkommensteuer der Anteilseigner und Aktionäre gewesen. Damit war verhindert worden, dass der Gewinn einer Kapitalgesellschaft zweimal besteuert wird, erst bei dem Unternehmen, dann bei dessen Eigentümern.

An die Stelle dieser bisherigen Lösung trat das heute geltende Halbeinkünfteverfahren. Bei ihm muss der Aktionär oder der Anteilseigner einer GmbH nur noch die Hälfte einer Dividende oder einer Gewinnausschüttung versteuern. Da der Gesetzgeber zugleich den Körperschaftsteuertarif deutlich absenkte (von zuletzt 40 auf 25 Prozent), liegt das Gesamtergebnis dieses „Halbeinkünfteverfahrens“ wirtschaftlich sehr nahe bei dem, was die vorherige Lösung brachte, das so genannte „Vollanrechnungsverfahren“.
Das trug seinen Namen aufgrund von zwei Vorgängen, die bei einer Gewinnausschüttung abliefen. Der eine Vorgang betraf die Gesellschaft, der andere den Aktionär oder Anteilseigner.

  • Bei Kapitalgesellschaften war der Steuertarif auf einbehaltene Gewinne höher als der auf ausgeschüttete Gewinne. Zeitgleich mit einer Gewinnausschüttung (oder Dividende) erhielt die Gesellschaft deshalb vom Finanzamt Geld zurück, das aus ihrem eigenen so genannten Steuerguthaben stammte.
  • Gleichzeitig erhielt der Aktionär (oder GmbH-Anteilseigner) eine Steuergutschrift. Diese Gutschrift minderte die eigene Einkommensteuer oder führte sogar zu einer Barauszahlung vom Finanzamt.
  • Doch genau in dieser Gutschrift hatte die Bundesregierung ein kaum noch unüberschaubares Risiko für Deutschland gesehen, wie das neue Urteil schildert. Denn deutsche Steuerzahler besaßen nicht nur inländische Aktien, sondern auch solche aus dem europäischen Ausland. Und es war nur noch eine Frage der Zeit, wann der Europäische Gerichtshof von den deutschen Finanzämtern verlangen würde, diesen Aktionären auch ausländische Körperschaftsteuer zu erstatten. Dann müsste Deutschland diesen inländischen Besitzern von Auslandsaktien Milliardenbeträge an Steuern erstatten – Steuern, die Deutschland selbst nie erhalten hatte. Das hätte die staatlichen Haushalte nicht verkraftet.

    Diese Gefahr drohte, wie der BFH jetzt schrieb, zunächst in der Folge eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs mit dem (Aktenzeichen C-35/98 „Verkooijen“). Das war gerade erst im Juni 2000 ergangen. Bereits mit Händen zu greifen war danach, dass Deutschland binnen kurzem wirklich würde zahlen müssen. Tatsächlich hat der EuGH dieses gefürchtete Entscheidung dann im letzten Jahr am 7. September getroffen. Das Urteil wurde unter dem Namen „Manninen-Urteil“ europaweit berühmt oder berüchtigt (Aktenzeichen C-319/02). Mehrere Länder änderten seinetwegen ihr gesamtes Körperschaftsteuerrecht.

    Das Manninen-Urteil betrifft zwar Finnland, bringt aber auch Deutschland massive Steuerausfälle. Die sich jedoch jetzt zeitlich begrenzt. Wegen der damaligen Systemumstellung erfasst das Urteil nur noch Steuerbescheide bis zum Jahr 2001 erfassten. Umstritten ist allerdings zur Zeit, auf wie viele Jahre zurück Aktionäre ihre Forderung gegen Deutschland durchsetzen können. Das „Vollanrechnungsverfahren“ gab es seit 1977. Darüber verhandelt der EuGH derzeit in einem anderen, aus Deutschland stammenden, Verfahren.

    Die Steuerumstellung und der große Zeitdruck, unter dem sie stand, hatten jedoch erhebliche andere Probleme aufgeworfen. Zum einen forderten die Kapitalgesellschaften ihre Steuerguthaben schon im Jahr 2001 sehr viel schneller ein, als die Regierung erwartet hatte. Viele Unternehmen schütteten sämtliche bislang einbehaltenen Gewinne aus. Der BFH bezeichnet das in seinem Urteil als „Leerausschüttung“.

    Dadurch erhielten diese Unternehmen die Steuerdifferenz zwischen einbehaltenen und ausgeschütteten Gewinnen vom Staat vollständig erstattet. In jenem Jahr musste der Staat mehr Körperschaftsteuer an die Unternehmen zurückbezahlen als er von ihnen bekam. Da dies allerdings noch auf der Basis des „Vollanrechnungssystems“ geschah, stieg natürlich zugleich die Einkommensteuer aus Kapitalerträgen kräftig an. Denn für diese Alt-Ausschüttungen galt beim Aktionär und Anteilseigner noch nicht das Halbeinkünfteverfahren.

    Nicht alle Unternehmen waren damals jedoch zu solchen „Leerausschüttungen“ bereit oder aus dem Stande fähig. Zu ihnen gehörte das Elektronikunternehmen, über dessen Klage der BFH jetzt urteilen musste. Dieses Unternehmen war eine Holding – also ein Mutterunternehmen, dessen Töchterfirmen die eigentlichen Geschäfte betrieben. Die Kapitalstruktur dieser Holding war so beschaffen, dass sie nicht imstande war, ihre Steuerguthaben durch eine Ausschüttung restlos zu mobilisieren.

    Für die Umstellung dieser Kapitalstruktur stand jedoch von Gesetz wegen nur begrenzte Zeit zur Verfügung. Der Zeitdruck, unter dem sich der Gesetzgeber sah, kontrastierte scharf mit dem Zeitbedarf des Unternehmens. Folge: Die Gesellschaft verlor ein Steuerguthaben in Höhe von mehreren Millionen Mark, und zwar endgültig. Sie fühlte sich enteignet. Ihre Hoffnung lag nun nur noch darin, dass der Bundesfinanzhof die Übergangsvorschriften als verfassungswidrig angesehen hätte.

    Der 1. Senat des BFH stimmte der klagenden Gesellschaft in soweit zu, als die Bundesrepublik solche Gesetze nur in dem Maße umgestalten darf, wie „dies durch Gründe des Gemeinwohls unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist“. Diese Rechtfertigung jedoch, so befand das Gericht nach einem Blick auf den Hintergrund der neuen Rechtslage, war vorhanden. Womöglich hätte das Unternehmen den Nachteil sogar ganz verhindern können, wenn es ebenfalls rechtzeitig eine „Leerausschüttung“ durchgeführt hätte. Der BFH lehnte den Antrag, die Übergangsregelung als verfassungswidrig einzustufen, ab. Auf einen Verlust, der dadurch entsteht, dass das Unternehmen „auf eine unbegrenzte Fortgeltung des Anrechnungsverfahrens vertraut“ hatte, musste der Gesetzgeber keine Rücksicht nehmen
    (Urteil vom 31. Mai 2005, Aktenzeichen ).

    © Michael Weisbrodt

    Zu den Entscheidungen, die der Bundesfinanzhof am 28. September veröffentlicht hat
    Übersicht
    I R 107/04: „Keine Rücksicht auf die Verluste“
    II R 62/03: „Erbschaftsteuerrichtlinien gesetzwidrig“
    III R 48/03 Die Rache der Geschiedenen
    III R 66/04 Ein Kindergeldurteil, dass sich selbst widerspricht
    VII B 244/04 Pflichtverstoß ohne Vermögens-Schaden?
    VIII R 71/04 Steuerpflicht für die Nachspielzeit
    X R 22/02 Prima Erfindung, bitteres Ende
    XI R 61/04 Vergebliche Werbungskosten voll anerkannt

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