Ein heute von Generalanwalt Antonio Tizzano vor dem Europäischen Gerichtshof präsentierter Entscheidungsvorschlag stellt einen nur von wenigern Insidern erwarteten wichtigen Etappensieg für Deutschland dar. Ausnahmsweise darf dabei das Wort „sensationell“ fallen. Tizzano schlägt vor, die Rückwirkung des bislang vermutlich teuersten EuGH-Urteils aller Zeiten, des Manninen-Urteils, auf den 6. Juni 2000 zu beschränken, und nicht auf das Jahr 1977 auszudehnen. Damals hatte Deutschland sein Körperschaftsteuerrecht zum vorletzten Mal grundlegend reformiert.
Perfekt wäre die Überraschung, wenn der EuGH dem Vorschlag des Generalanwalts in seinem Urteil folgt. In diesem Fall dürften sich die gegen Deutschland gerichteten Erstattungsansprüche deutscher Aktionäre ausländischer Aktiengesellschaften im überschaubaren Rahmen von nur fünf Milliarden Euro halten. Folgt das Gericht dem Generalanwalt nicht, wäre der deutsche Fiskus vollständig überfordert.
Erstmals in der Geschichte des EuGH steht jetzt zu erwarten, dass dieses Gericht die zeitliche Rückwirkung eines steuerrechtlichen Grundsatzurteils massiv begrenzt. Ob sich diese Entscheidung dann auf weitere Themenfelder ausdehnen ließe, ist offen. Der Generalanwalts versteht seinen Antrag jedenfalls als große Ausnahme, die er allerdings fiskalisch begründet, nämlich mit den ansonsten drohenden riesigen Steuerausfällen, in diesem Fall für Deutschland.
Nach einer Schätzung der Finanzminister von Bund und Ländern könnten jedoch auch weitere bereits verkündete oder noch zu erwartende Luxemburger Urteile zu Steuerausfällen in einer mittleren zweistelligen Milliardenhöhe führen.
Die Überraschung hatte sich bereits vor zwei Monaten angebahnt, als der EuGH mündlich in dem jetzigen Verfahren verhandeltet. Ins Auge gefallen war während der Verhandlung, dass die EU-Kommission die Position gewechselt und sich an die Seite Deutschlands gestellt hatte. Dass sich auch die Kommission dafür aussprechen würde, die Rückwirkung einer neuen Rechtsprechung zeitlich zu begrenzen, hatte eigentlich niemand erwartet. Nicht einmal der kurz vor der Verhandlung vom federführenden Richter Egils Levits verfasste vorbereitenden Sitzungsbericht hatte die geringste Andeutung enthalten.
Anlass der Verhandlung war ein Prozess um die steuerlichen Ansprüche inländischer Aktionäre ausländischer Kapitalgesellschaften. Es ging um die weitere Konkretisierung eines bereits im vergangenen Herbst verkündeten Diskriminierungsverbots. Inländische Aktionäre können nach dieser neuesten Rechtsprechung von ihrem Heimatstaat die Erstattung von Steuern verlangen, welche die Aktiengesellschaft zuvor an einen anderen Staat bezahlt hat. Die frühere Beschränkung solcher Forderungen auf inländische Aktiengesellschaften hatte der EuGH im vergangenen Herbst mit dem so genannten Manninen-Urteil verworfen. Dieses Finnland betreffende Urteil berührte auch das Körperschaftsteuergesetz, das zwischen 1977 und 2000 in Deutschland galt.
Unmittelbar nach Veröffentlichung der Luxemburger Manninen-Entscheidung hatte die Bundessteuerberaterkammer zwei Aufsätze veröffentlicht, die hiesigen Aktionären Erstattungsansprüche für den gesamten Zeitraum zwischen 1977 und 2000 zuerkannten. Finanzminister Hans Eichel hatte daraufhin während der letztjährigen Haushaltsdebatte gesagt: „Dann ist der Staat pleite“. Kernproblem des jetzige Verfahrens „Meilicke und andere“ gegen das Finanzamt Bonn Innenstadt (Aktenzeichen: EuGH C-292/04) war daher nur noch die persönliche und zeitliche Tragweite des bereits getroffenen Grundsatzurteils.
Bislang schien völlig unbestritten, dass die Luxemburger Steuer-Urteile faktisch immer rückwirkend gelten, also den Rechtszustand definieren, der von Anfang an – seit Bestehen der jeweiligen gesetzlichen Vorschriften – bestand.
Demgegenüber entscheidet beispielsweise das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren überwiegend nur für die Zukunft. Die Forderung an den EuGH, sich ebenso wie das höchste deutsche Gericht zu verhalten, galt lange Zeit als aussichtslos. In dieser eindeutigen Haltung hatte die Europäische Kommission den Gerichtshof bislang stets kompromisslos unterstützt.
Deutschland beruft sich in dem Verfahren aber auf einen so genannten Vertrauensschutz. Das Land habe die Rechtsentwicklung, die zu dem Manninen-Urteil führte, lange nicht voraussehen können. Erst eine andere Entscheidung dim Jahr 2000 – das so genannte Verkooijen-Urteil – habe dies geändert. Unmittelbar danach sei die neue Bundesregierung tätig geworden. Diesem Argument Deutschlands ist Generalanwalt Antonio Tizzano nun gefolgt. Das Stichdatum des Rückwirkungsverbots, welches er dem EuGH vorgeschlagen hat, ist das Datum, an dem der EuGH das Verkooijen-Urteil veröffentlicht hatte.
Diese Rechtsänderung hatte der damaligen Bundesregierung einen Kraftakt sondergleichen abverlangt. Tatsächlich waren weite Teile der Fachwelt und die gesamte parlamentarische Opposition sogar noch nach diesem Urteil massiv dagegen vorgegangen, dass die Bundesregierung das alte „Anrechnungssystem“ abschaffte. 72 Ordinarien der Fächer Betriebswirtschaft und Jura hatten der Regierung in einem Aufruf vorgehalten, damit „die dümmste Entscheidung zu treffen“, die je eine deutsche Regierung gefällt habe. Genüssliche hatte Oppositionssprecher Friedrich Merz diese Kronzeugen vor dem Bundestag zitiert. Nun aber kann das Land froh sein, dass die Regierung die Körperschaftsteuer damals schnell und grundlegend reformierte.
Erstmals hat Deutschland jetzt bei der mündlichen Verhandlung öffentlich die Kosten genannt, die dem Staatshaushalt durch die Manninen-Rechtsprechung drohen. Sofern das jetzige Verfahren zu einer zeitlichen Beschränkung aller Ansprüche auf die Zeit seit dem Verkooijen-Urteil käme, würde der Steuerausfall eine Größenordnung von fünf Milliarden Euro ausmachen. Eine Ziffer für den Fall, dass es diese Beschränkung nicht gibt, nannten die Vertreter des Finanzministeriums nicht.
Rechtsanwalt Wienand Meilicke, der den Luxemburger Prozess für sich selbst und zwei Verwandte betreibt, war auf diese Argumente vorbereitet, wenn auch nicht auf den Seitenwechsel der Kommission. So konnte er während des Verfahrens selbst mit einer handfesten Überraschung aufwarten, die den guten Glauben Deutschlands erschüttert, sich bis zu dem Verkooijen-Urteil in Übereinstimmung mit europäischem Recht befunden zu haben.
Der Anwalt hatte dem Gericht ein Schreiben der EU-Kommission vom 31. Oktober 1995 an den damaligen Außenminister Klaus Kinkel vorgelegt.
Darin stand, dass das deutsche Anrechnungssystem „den Regeln der Gemeinschaft über den freien Kapitalverkehr und das Niederlassungsrecht“ ganz „offensichtlich widerspricht“ und dass darin entweder eine „willkürliche Diskriminierung“ oder eine „verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs“ liege.
Mit diesem formgerechten und sehr massiven Schreiben hatte die Kommission den ersten Schritt eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland eingeleitet. Die damalige Bundesregierung mit Finanzminister Theo Waigel hatte die Existenz dieses Verfahrens jedoch vor der Öffentlichkeit geheim gehalten. Auch die Kommission hatte sich damals nicht öffentlich geäußert.
Meilicke berichtete dem Steuerdienst, dass er sich die entsprechenden Dokumente auch erst durch hartnäckige Nachfragen in Brüssel hatte beschaffen können. Jetzt sieht er sie als Beweis dafür an, dass Deutschland sich auch vor dem Verkooijen-Urteil nicht wirklich auf Vertrauensschutz berufen konnte.
Eine weitere Überraschung ergab sich jedoch während der Verhandlung, als die EU-Kommission keine plausible Antwort auf die Frage wusste, warum sie ihr – sachlich augenscheinlich berechtigtes – Vertragsverletzungsverfahren offensichtlich nicht fortgesetzt hatte. Hatte sie womöglich unter der Hand Zusagen der damaligen Bundesregierung erhalten, dass auch sie das deutsche Körperschaftsteuerrecht ändern würde?
Die parlamentarische Staatsekretärin im Finanzministerium Barbara Hendricks indes sah gerade in dem seinerzeitigen Vertragsverletzungsverfahren einen Beleg für den guten Glauben Deutschlands, sich in Übereinstimmung mit dem EU-Recht zu befinden. Denn andernfalls, so teilte sie dem Steuerdienst mit, hätte die Kommission das Vertragsverletzungsverfahren nicht einfach beenden dürfen.
Dafür, dass der EuGH tatsächlich nur zu einer beschränkten Rückwirkung des Manninen-Urteil kommen wird, spricht aus der mündlichen Verhandlung noch ein zweiter Grund. Überraschenderweise verfing dort nämlich während der Verhandlung ein weiteres Argument des Bundesfinanzministeriums. Die deutschen Vertreter hatten zwei arbeitsrechtliche Grundsatzurteile in das Verfahren eingeführt, die beweisen, dass dem Gerichtshof eine solche zeitliche Beschränkung tatsächlich schon früher möglich war. In diesen Urteilen hatte der EuGH eine Diskriminierung bei der Entlohnung und beim beruflichen Fortkommen untersagt, wenn sie auf dem Geschlecht eines Arbeitnehmers beruhen. Beide Urteile (C-43/75 „Defrenne“ und C-262/88, „Barber“) hatte das Gericht mit der Einschränkung versehen, dass nur solche Arbeitnehmer rückwirkend von ihnen profitieren können, die ihre Diskriminierung bereits vor dem Tag des Urteils in aller Form geltend gemacht hatten.
© Michael Weisbrodt
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