Justizirrtum doch irreparabel?

Je lückenloser die Rechte der Bürger sind, desto höher sind die Kosten des Rechtsstaats, desto langwieriger die Verfahren. Doch manchmal kommt es vor, dass ein drohender Justizirrtum noch während eines Verfahrens erkannt wird, aber aus formalen Gründen nicht mehr zu heilen ist.

Deshalb ging das Bundesverfassungsgericht vor zwei Jahren der Frage nach, was geschehen soll, wenn ein Bürger aufgrund einer richterlichen Fehlentscheidung die Chance auf rechtliches Gehör verliert. Die Gesetze wiesen keinen Ausweg, und das Plenum des Verfassungsgerichts holte Stellungnahmen bei der Bundesregierung, bei den Landesregierungen, beim Bundesgerichtshof, beim Bundesfinanzhof und Bundesverwaltungsgericht ein.

Fast einmütig rieten damals das Bundesjustizministerium, das Land Hessen und alle drei angefragten obersten Bundesgerichte von einer gesetzlichen Änderung ab. Auch die bisherige eigene Rechtsprechung der Verfassungsrichter hielt die formalen Möglichkeiten prozessierender Bürger für ausreichend.

Trotzdem änderte das Bundesverfassungsgericht in einer kontroversen Mehrheitsentscheidung (mit 10 zu 6 Stimmen) seine Rechtsprechung und verpflichtete das Parlament zu einer entsprechenden Ergänzung seiner Verfahrensgesetze (Entscheidung vom 30. April 2003, 1 PBvU 1/02).

Der Bundestag beschloss deshalb vergangenes Jahr noch kurz vor Weihnachten ein „Anhörungsrügengesetz“. Dadurch erhielt auch die für Steuerprozesse einschlägige Finanzgerichtsordnung http://bundesrecht.juris.de/bundesrecht/fgo/index.html einen entsprechenden neuen Paragrafen. Er sieht vor, dass die Richter ein eigentlich abgeschlossenes Gerichtsverfahrens auf eine außerordentliche Beschwerde hin fortsetzen müssen. Voraussetzung ist, dass alle sonstigen Rechtsmittel erschöpft sind, das Gericht aber den Anspruch auf rechtliches Gehör zuvor „in entscheidungserheblicher Weise“ verletzt hat.

Der Bundesfinanzhof legte diesen Paragrafen 133a jetzt erstmals aus – ganz augenscheinlich mit größter Unlust. Im Leitsatz beschloss der BFH sinngemäß, dass der Paragraf „jedenfalls“ dann greift, wenn Richter das Recht „bewusst“ und „objektiv greifbar“ gesetzwidrig angewandt hätten, also auf gut deutsch, wenn ein Richter willentlich Rechtsbeugung betrieben hat. Nicht gesichert ist also nach dieser Auslegung, welche Rechte dem Bürger zustehen, wenn ein Richter nicht böswillig gehandelt, sondern nur schlicht versagt hat. Dabei ist eigentlich weder dem Paragrafen noch dem Auftrag des Verfassungsgerichts ein Hinweis zu entnehmen, dass das neue Rechtsmittel auf Richter mit schlechten Absichten zielte. Es soll nur gegen greifbar falsche, aber formal unangreifbare Entscheidungen schützen, die den Bürger daran gehindert haben, vorzutragen, was zur Sache gehört.

Die anhängige außerordentliche Beschwerde wies der BFH übrigens ab (IV B 42/05).

© Michael Weisbrodt

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